Der gewundene Weg zur Sekundärnatur

Wie der Leipziger Auwald „natürlich“ wuchs und „künstlich“ starb.

Von Frank Wilberg. Dies ist ein Gastbeitrag von der Zeitung 3VIERTEL, die derzeit kostenlos und monatlich im Leipziger Westen erhältlich ist.

Der Auwald, unendliche Weiten, wir schreiben das 2200. Dies ist ein melancholischer Rückblick auf das tragische Vegetieren eines phantastischen Leipziger Ökosystems, was noch vor knapp 200 Jahren zwischen Plagwitz und Connewitz, zwischen Gohlis und Lindenau nicht wegzudenken war. Heute wirkt es freilich eher, als hätte die ehemals grüne Lunge gleich neben der City nie eine echte Chance gehabt.

Die Dinosaurier waren schon 65 Millionen Jahre ausgestorben, als in der Leipziger Tieflandsbucht der Auwald geboren wurde. Der exakte Geburtstag ist nicht eindeutig überliefert. Es war ja auch eine längere Geburt – zumindest nach menschlichen Maßstäben. Hier kommt übrigens ein gravierender Gegensatz ins Spiel, dem wir uns noch etwas detaillierter werden widmen müssen. Es geht um unsere vermaledeite anthropozentrische Sichtweise. Wir Menschen begreifen uns als Zentrum und Nabel der Welt, leugnen unsere Herkunft, sehen uns nicht als Teil der Natur. Dabei geraten Natur wie auch Vergangenheit schnell unter das Stigma des Primitiven. Der vermeintliche Fortschritt von Technik und Zivilisation verstellt uns den Blick.

Aber zurück zu dem neuen Ökosystem, das die Leipziger zu Beginn des 21. Jahrhunderts der „Weird-Zeit“ sehr mochten. (Weird bedeutet im Englischen so viel wie seltsam. Die Abkürzung steht für „western educated industrialised rich and democratic“ und will klarmachen, dass einige wenige Menschen – die westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen, demokratischen – das Maß der Dinge der Welt geworden sind, was ebenfalls höchst seltsam ist.) Jedenfalls, sobald Freizeit und schönes Wetter zusammentrafen, strömten die Leute ins Grüne zum Spazieren, Joggen oder Picknicken. Auwald, Parks und auch die kleinen Wasserwege entwickelten regelrecht magnetische Kräfte, machten die hippe Stadt noch hipper. Öko war konsumkompatibel und Wohnungen nahe der grünen Nord-Süd-Achse Mangelware.

Das Besondere an der Entstehung des Auwaldes, das wusste in jenen Tagen freilich praktisch niemand, war, dass es nicht nur der natürliche Lauf der Dinge war, der ihn zeugte, sondern dass es sich zumindest zum Teil um eine künstliche Befruchtung handelte! Etwa 11.700 Jahre zuvor hatte die bis dahin letzte Eiszeit in Europa geendet und der Erdoberfläche ihre damals noch aktuelle Form und Struktur verliehen. Steinzeitmenschen hatten sich hier schon 280.000 Jahre zuvor rumgetrieben, ehe die Eiszeit 113.000 vor „unserer“ Zeit begann und hundert Millennia lang mit frostiger Hand regierte. Evolutionär beziehungsweise erdgeschichtlich nur ein Wimpernschlag, für die Weird-Menschen unvorstellbar. Graue Vorzeit oder Vor-Geschichte, pflegten sie zu sagen.

Jedenfalls trafen in der von der Weichsel-Eiszeit geformten Leipziger Tieflandsbucht Pleiße, Parthe und Weiße Elster zusammen. Letztere war nunmehr ein gewundenes und tiefer einschneidendes Fließgewässer und schleppte zusammen mit der Pleiße einiges Geröll an. Winderosion bescherte der feuchten Senke zusätzlich fruchtbare Ablagerungen aus Löß und Treibsand, so dass etwa 7.000 vor „unserer“ Zeit eine erste „wilde“ Aue entstand. Eichen und Eschen wuchsen auf der noch dünnen Sedimentschicht.

Und an dieser Stelle, reichlich 5.000 Jahre bevor die Weird-Zeit im christianisierten Westen zu ticken anfing, trat der Mensch auf den Plan. Von Leipzigern, Sachsen oder Deutschen war weit und breit noch keine Spur. Slawen beziehungsweise Sorben sorgten für ein erstes zartes Aufblühen von „Zivilisation“ und rodeten am Oberlauf der drei kleinen Flüsse Bäume in Größenordnungen, wodurch Sedimente freigesetzt und in die Weichholzauen des (viel) späteren Leipzigs transportiert wurden. Wegen des hier nachlassenden Gefälles lagerten sich diese als Auelehm in dem Binnendelta ab, steigerten den Nährstoffgehalt im Erdreich und bereiteten im wahrsten Sinne des Wortes den Boden für anspruchsvollere Harthölzer.

Auwald ist nicht einfach nur eine feuchte Gegend – dank periodischer Überschwemmungen sind hier Vegetationsarten heimisch, die auf nasse Füße abfliegen. Durch die Sedimente, die sich dank der Überflutungen und Rodungen besonders üppig ablagerten, erhöhte sich allerdings das Bodenniveau der Wälder. Die Humusschicht wuchs also, wurde in Folge dessen jedoch an weniger Tagen im Jahr überschwemmt und also trockener. Im Mittelalter, ein paar tausend Jahre später, als Leipzig mittlerweile existierte, kam es erneut zu umfangreichen Rodungen und entsprechender Sedimentation.

Pfiffige Zeitgenossen könnten nun einwenden, dass die Menschen in Leipzig mit viel Schweiß doch auch etliche Mühlgräben schufen. Aber je schneller so ein Graben das Wasser fließen lässt, um die Mühlen in Bewegung zu setzen, desto stärker sorgt er für die Ableitung des Wassers und somit die Austrocknung des Bodens. Da wo später eine DHfK, ein Zentralstadion, das Elsterflutbett und die Kleinmesse entstanden, war Leipzig noch zu Napoleons Zeiten längst zu Ende und in ein unwirtliches Feuchtgebiet übergegangen, welches erst mit der weiter zunehmenden Besiedlung immer mehr schrumpfte. Obwohl die „Frankfurter Wiesen“ selbst im 20. Jahrhundert „unserer“ Zeit noch häufig überschwemmt waren, wurde der Auwald immer mehr zur menschlichen Landschaft. Das heißt, neben Mühlgräben hielten regulierte Flussläufe, Kanäle und Deiche Einzug, verkleinerten die Auwaldfläche und ließen den Boden immer mehr austrocknen. Auwalduntypische Pflanzenarten machten sich breit. Der Auwald ging unmerklich unter, weil er zu wenig wässriges Lebenselixier bekam.

Sogar Schleußig wurde erschlossen. Der ab 2000 zum Trendkiez erhobene Stadtteil zählte 1871 lediglich 282 Einwohner. Sein Ortsname stammt wie die Mehrzahl der im Laufe der Zeit eingemeindeten Leipziger Stadtteile aus dem Altsorbischen und bedeutet feucht. Allerdings, und jetzt kommen wir auf den eingangs erwähnten Gegensatz zu sprechen, wollte um 2010 keiner der mittlerweile über zwölftausend Schleußiger ein Hochwasser vor der Haustür haben. Selbst ein 20 Zentimeter unter Wasser stehender Auwald – die natürlichste Sache der Welt – war kaum hinnehmbar. Den so genannten „Tornadoerlass“ fanden zwar auch viele blöd, als 2011 mehr als 6.500 Bäume auf Leipzigs Deichen unter vorgeschobenen Hochwasserschutzgründen abgeholzt wurden.

Aber unter Natur stellte sich die Gesellschaft dennoch eine berechenbare Landschaft vor. Aus diesem Grund stellt ein historischer Abriss der Natur für traditionelle Philosophen auch eine unerträgliche Zumutung dar. Die „echte“ Natur im Sinne von Wildnis, für den Leipziger Auwald die Zeit um 7.000 vor der menschlich-künstlichen Zeit, kennt keine Geschichte! Sie ist demnach bloß eine ewige Wiederkehr des Gleichen, gehorcht nur den Jahreszeiten. Dieser Standpunkt ignorierte zwar zum Beispiel die Evolution und das bis dahin fünfte Massenaussterben in der Kreide-Tertiär-Zeit, welches auch die Dinos hinwegraffte. Aber der Weird-Mensch hatte nur Augen für sich – der Blick der westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen Demokraten. Seine seltsame Zivilisation knechtete und instrumentalisierte den Rest der Welt, das heißt alle anderen Menschen und die Natur gleichermaßen. Die Philosophie jubelte das zum Weg des Menschen und seiner Vernunft von der ersten zur zweiten Natur – der Kultur – hoch.

Für wilde Natürlichkeit blieb da kein Platz mehr auf der Erde. Dabei ist die Natur wie eine Katze – manchmal schmiegt und fügt sie sich, manchmal faucht sie und fährt die Krallen aus. Zwar ist sie als Haustier unser Gefährte, bleibt aber doch immer etwas unberechenbar.

Selbst verträumten Naturromantikern unter den Weird-Menschen war die von Menschen gestaltete Landschaft näher als die Wildnis. Und weil der ab 1990 wiederkehrende Imperialismus unter dem verklärenden Namen „freiheitlich demokratische Grundordnung“ alles und jeden unter Kontrolle haben musste, wurden keine hundert Jahre später nicht nur die Hauskatzen verboten und eine Landschaft namens Lausitz quasi komplett entvölkert, um etwas Braunkohle aus der Erde zu popeln, sondern war auch der Leipziger Auwald nicht zu retten. Als ordinärer Wald durfte er noch etwas vor sich hinvegetieren. Als er nicht mehr zum Hochwasserschutz benötigt wurde und der Klimawandel ganz andere Probleme mit sich brachte, war er entbehrlich und büßte seine letzten Fürsprecher ein. Da mittlerweile die virtuelle Realität nicht nur modern sondern normal und alternativlos geworden war, empfand das kaum jemand als wirklichen Verlust. Für eine Spende bei dem alten Internetlexikon Wikipedia können wir ja noch heute die Fotos von früher betrachten – sogar in 3D und mit Soundeffekten – natürlich.

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