Einstürzende Wohnhäuser und sichere Wege

Von verwirrenden Begrifflichkeiten, schwierigen Urteilen und widersprüchlichen Interessen

Ein Beitrag von J. Hansmann (Aueninstitut für Lebendige Flüsse)

Abgestorbene Eiche im Leipziger Auwald 2020. Foto: J. Hansmann

Abgestorbene Eiche im Leipziger Auwald 2020. Foto: J. Hansmann

Ende Juli ist ein Baum im Leipziger Auwald umgefallen. Solches passiert prinzipiell jeden Tag auf der ganzen Welt – mindestens millionenfach. Bäume keimen aus Früchten und Samen, wachsen heran, aber Bäume sterben auch irgendwann – je nach Art und Umständen mal früher, mal später. Manchmal stehen sie noch eine Weile als sogenanntes Totholz herum und zerfallen jahrelang, manchmal bricht die Krone ab und nur noch der Stamm bleibt stehen, manchmal kippt auch ein abgestorbener Baum samt Wurzel um. Je nach Baumart und Umständen kann ein Baum auf vielerlei Arten sterben und zerfallen. Es gibt zahlreiche Organismen, die sich auf diese unendlich vielen Möglichkeiten des Zerfalls eines Baums angepasst haben und ohne absterbende oder gar schon abgestorbene Bäume gar nicht leben können, da diese Baumruinen ihre Lebenswelt darstellen. Und da sich viele Arten schon vor Millionen von Jahren entwickelt haben, lässt sich schlussfolgern, dass schon seit Millionen von Jahren Bäume sterben und zerfallen. Es wäre ja auch seltsam, wenn es anders wäre.

Die Besonderheit in diesem Fall war, dass der Baum, eine Eiche, auf den Nonnenweg (eine Straße durch den Auwald) fiel – mitten am Tag. Zum Glück kamen anwesende Passanten mit dem Schreck davon.

In unserer Zeit, dem 21. Jahrhundert, leben wir Menschen in den westlichen Industrienationen in vergleichsweise sicheren und planbaren Umständen. Alles scheint geregelt zu sein, wir haben hoch entwickelte Systeme, die uns schützen und welche immer weiter entwickelt werden. Es gibt DIN-Normen, Lebensmittelkontrolleure, das Trinkwasser unterliegt ständigen Tests, bezüglich des Straßenverkehrs wird viel diskutiert, wie man ihn sicherer machen kann. Auch unsere Umwelt mit ihren vielfältigen Gefahren wird geregelt und überwacht, Flüsse werden reguliert damit sie kein Hochwasser mehr haben, über Obstplantagen vertreibt man Unwetter mit Hagelkanonen. Versicherungen aller Art gegen allen möglichen Unbill geben vor, uns Schutz zu gewähren gegen Unfälle, Missgeschicke und sonstige Unglücke. Gegen allerlei Krankheiten gibt es Vorsorgeuntersuchungen und unsere Zähne sollten einmal jährlich auch zum TÜV für das Bonus-Heft.

Dennoch gibt es immer wieder Anlässe, welche uns zeigen, dass das Leben nicht immer planbar und sicher ist, und dass wir, auch wenn wir zum Mond fliegen können und mit Gentechnik Lebewesen verändern, letztlich nie eine 100%-Sicherheit haben, dass wir immer geschützt sind vor den Unwägbarkeiten des Lebens. Regelmäßig gibt es Unwetter, Erdbeben, Viren, Dürren, Unfälle usw., wo wir merken: das Leben bleibt voller Unwägbarkeiten.

Umgestürzte Bäume im Leipziger Auwald

Umgestürzte Bäume erzeugen Strukturen und schaffen Lebensräume. Im Leipziger Auwald 2018. Foto: J. Hansmann

Auch umstürzende Bäume sind unplanbar, unkalkulierbar. Selbst vermeintlich gesunde Bäume können bei einem Sturm entwurzelt werden oder einen Ast verlieren. Bei großer Trockenheit werfen sonst gesunde Bäume auch Äste ab, weil sie schlicht nicht mehr genügend Wasser haben, um alle Äste zu versorgen. Mit dieser Notreaktion haben die Bäume dann einen Ast weniger mit Wasser zu versorgen – man könnte also das Abwerfen von Ästen bei Dürre auch als Selbstschutzmechanismus der Bäume ansehen. Bäume können auch schlicht Krankheiten haben oder auf sehr ungünstigen Standorten gewachsen sein, auch dann können sie mehr oder weniger unvorhersehbar schlicht umfallen. Im Endeffekt ist dies einfach nur: Natur. Und der Akt des Umfallens eines Baumes ist einfach nur: natürliches Geschehen.

In menschlichen Siedlungen und entlang von Straßen und Zügen können solche umfallenden Bäume natürlich für Ärger und Unglück sorgen. Schon seit 1902 beschäftigen sich Gerichte in Deutschland mit diesem Thema, wer haftbar ist für umfallende Bäume, verschneite Fußwege, herunter fallende Eiszapfen, nicht gekennzeichnete Gruben usw. usf.1 Um es kurz zu fassen, gehen wir hier aber nur auf die aktuelle Gesetzeslage bezüglich von Wäldern, um welche es hier ja geht, ein.

Aktuell ist die Lage unseres Wissens nach in Wäldern klar geregelt. Nach einem Verfahren hat der Bundesgerichtshof 2012 hierzu ein recht unmissverständliches Urteil gefällt, aus welchem wir hier zitieren:

Nach den im Einklang mit § 14 BWaldG erlassenen landesrechtlichen Vorschriften (hier: § 25 des Waldgesetzes für das Saarland) ist das Betreten des Waldes zu Erholungszwecken jedermann gestattet. Die Benutzung des Waldes geschieht jedoch auf eigene Gefahr. Dem Waldbesitzer, der das Betreten des Waldes dulden muss, sollen dadurch keine besonderen Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten erwachsen. Er haftet deshalb nicht für waldtypische Gefahren, sondern nur für solche Gefahren, die im Wald atypisch sind. Dazu zählen insbesondere die Gefahren, die nicht durch die Natur bedingt sind. Die Gefahr eines Astabbruchs ist dagegen grundsätzlich eine waldtypische Gefahr. Sie wird nicht deshalb, weil ein geschulter Baumkontrolleur sie erkennen kann, zu einer im Wald atypischen Gefahr, für die der Waldbesitzer einzustehen hätte.“ 2

Der Bundesgerichtshof hat also durchaus erkannt, dass es in Wäldern normal ist, dass dort Äste herabstürzen oder Bäume gar umstürzen können: solche Vorgänge sind waldtypische Gefahren. Für einen Waldbesitzer wäre es auch unzumutbar, verpflichtet zu werden, diese Vorgänge zu verhindern. Zu einem wäre sein Wald hinterher unter Umständen kein wirklicher Wald mehr oder mindestens irreparabel geschädigt. Zum anderen wäre es auch gar nicht zu schaffen, denn das Keimen, Aufwachsen und Sterben gehören zum Leben in einem Wald schlicht dazu und lässt sich nicht stoppen: der Kreislauf des Lebens beginnt jeden Tag von vorn.

Alte und abgestorbene Bäume bieten Nahrung und Lebensraum

Alte und abgestorbene Bäume bieten Nahrung und Lebensraum. Schwarzspecht im FFH-Gebiet “Leipziger Auensystem” 2018. Foto: J. Hansmann

Und es wäre auch fatal für eine Vielzahl teils sehr bedrohter Arten, solches allein schon versuchen zu wollen: Arten, die oft vom Aussterben bedroht sind. Es wäre auch fatal für uns, denn wenn wir Menschen unsere Wälder zur Vermeidung waldtypischer Gefahren auf jeden möglichen Ast und Zweig untersuchen, um diese zu entfernen, würde dies unsere Wälder so stark beeinträchtigen, dass wir sie wahrscheinlich nicht mehr Wälder nennen könnten und sie uns auch nicht mehr nützen. Wälder sind auf unserem Planeten von hoher Relevanz für das Klima – wenn wir in Zukunft ein Klima behalten wollen, in dem wir als Menschheit noch lebensfähig sind, sollten wir jeden Wald eher noch auf Händen tragen anstatt sie zu schädigen (Gleiches gilt auch für Moore, Flüsse, Auen und sonstige Naturräume, welche klimatisch wichtige Schlüsselrollen innehaben).

Auch Bäume außerhalb von Wäldern werfen Äste ab oder können umfallen. Aber im Siedlungsraum und entlang von offiziellen Straßen und Wegen etc. gibt es in Deutschland die Pflicht, dass der Grundstückseigentümer dafür mehr oder weniger Sorge tragen muss, dass herabstürzende Äste oder umfallende Bäume keinen Schaden anrichten oder jemanden verletzen oder gar töten. Diese Pflicht nennt man Verkehrssicherungspflicht. Bei der Vielzahl von Möglichkeiten (Straße, privates Grundstück, öffentlicher Park, unterschiedliche Baumarten mit unterschiedlichen Eigenschaften usw.) nimmt es nicht wunder, dass es hier eine Vielzahl von Urteilen und Regeln gibt. Für uns ist aber nur der Fall wesentlich, was für Regeln für öffentliche Straßen und Wege (einfache namenlose Waldwege zählen nicht dazu) gelten. Natürlich sind offizielle Straßen, Wege und Plätze, welche durch einen Wald führen oder liegen, auch innerhalb von Wäldern öffentlicher Verkehrsraum. Auch hier hat sich der Bundesgerichtshof in einem weiteren Urteil 2014 eindeutig geäußert:

Nach der ständigen Senatsrechtsprechung (vgl. nur Urteile vom 21. Dezember 1961 – III ZR 192/60, LM Nr. 3 zu RNatSchG; vom 21. Januar 1965 – III ZR 217/63, VersR 1965, 475, 476 und vom 4. März 2004 – III ZR 225/03, NJW 2004, 1381; s. auch BGH, Urteil vom 30. Oktober 1973 – VI ZR 115/72, VersR 1974, 88, 89 f) erstreckt sich die Straßenverkehrssicherungspflicht auch auf den Schutz vor Gefahren durch Bäume. Der Verkehrssicherungspflichtige muss daher Bäume oder Teile von ihnen entfernen, die den Verkehr konkret gefährden, insbesondere wenn sie nicht mehr standsicher sind oder herabzustürzen drohen. Allerdings stellt jeder Baum an einer Straße oder an einem öffentlichen Parkplatz eine mögliche Gefahr dar. Einerseits können auch völlig gesunde Bäume vom Sturm, selbst bei nicht außergewöhnlicher Windstärke, entwurzelt oder geknickt oder Teile von ihnen abgebrochen werden; auch Schneeauflage oder starker Regen können zum Absturz selbst von größeren Ästen führen. Andererseits ist die Erkrankung oder Vermorschung eines Baums von außen nicht immer erkennbar. Das gebietet aber nicht die Entfernung aller Bäume aus der Nähe von Straßen und öffentlichen Parkplätzen oder eine besonders gründliche Untersuchung jedes einzelnen Baums. Der Umfang der notwendigen Überwachung und Sicherung kann nicht an dem gemessen werden, was zur Beseitigung jeder Gefahr erforderlich ist; es ist unmöglich, den Verkehr völlig risikolos zu gestalten. Dieser muss gewisse Gefahren, die nicht durch menschliches Handeln entstehen, sondern auf Gegebenheiten der Natur selbst beruhen, als unvermeidlich hinnehmen. Die Behörden genügen daher ihrer Sicherungs- und Überwachungspflicht, wenn sie – außer der stets gebotenen regelmäßigen Beobachtung auf trockenes Laub, dürre Äste, Beschädigungen oder Frostrisse – eine eingehende Untersuchung dort vornehmen, wo besondere Umstände – wie das Alter des Baums, sein Erhaltungszustand, die Eigenart seiner Stellung oder sein statischer Aufbau oder ähnliches – sie dem Einsichtigen angezeigt erscheinen lassen (vgl. Senat aaO).“ 3

Das bedeutet: bei öffentlichen Straßen ist der Waldbesitzer verpflichtet, regelmäßig zu schauen, ob nicht doch irgendwo ein Baum sichtbar umzustürzen droht, oder ein Ast herabfallen könnte. Wenn der Waldbesitzer eine Gefahr feststellt, muss er den Baum bzw. den Ast entfernen. Falls doch ein Baum unvorhersehbar umstürzt oder einen Ast verliert, reicht es aus, wenn man als Waldbesitzer dennoch regelmäßig seiner Sicherungs- und Überwachungspflicht nachgekommen ist.

Illegaler Mountainbike-Trail

Auf illegal entstandenen Wegen wie diesem Mountainbiketrail im Leipziger Auwald 2018 gibt es natürlich keine Verkehrssicherungspflicht. Foto: J. Hansmann

Wie ist das nun mit einfachen Wald- und Wanderwegen? Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung schreibt hierzu auf ihren Internetseiten: „In Waldbeständen und auch auf normalen Waldwegen gilt der Grundsatz: Keine Verkehrssicherungspflicht für waldtypische Gefahren.“, führt aber auch sinnvolle Ausnahmen hinzu, wo der Eigentümer zu einer Verkehrssicherungspflicht im Wald dennoch verpflichtet ist: „Für Waldbereiche, die vom Waldbesitzer für spezielle Nutzungen freigegeben wurden, gelten höhere Sorgfaltspflichten. Dies betrifft zum Beispiel Flächen, die von Waldkindergärten genutzt werden, Kletterwälder oder Waldparkplätze. Bei Erholungseinrichtungen im Wald muss der Waldbestand in einer Tiefe von einer Baumlänge rund um die Einrichtung einer regelmäßigen Kontrolle unterzogen werden. Für die Erholungseinrichtungen selbst gilt die Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich technischer und baulicher Sicherheit.“ … „Für sonstige bauliche Anlagen wie etwa Handläufe an Wanderwegen oder Brückenbauwerke sollte dies gleichermaßen geregelt werden, da sie ebenfalls regelmäßig auf technische und bauliche Sicherheit überprüft werden müssen.“ 4

Wir gehen davon aus, dass die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung richtige Angaben macht. Sie weist zwar auch darauf hin, dass die Thematik sehr komplex ist und man für „konkrete betriebliche Fragen“ … den „Rat von forstlichen Beratern bzw. Sachverständigen“ einholen soll, aber grundsätzlich ist auch hier zu ersehen, dass ein normaler kleiner Waldweg nicht der Verkehrssicherungspflicht unterliegt.

Da der Nonnenweg (unser Beispiel von oben) asphaltiert ist und auch im Straßenverzeichnis der Stadt Leipzig steht 5, ist zumindest hier davon auszugehen, dass der Nonnenweg eine offizielle Straße/ein offizieller Weg ist und durchaus der Verkehrssicherungspflicht unterliegt. Wir vermuten, dass die Verkehrssicherungspflicht auch für Spielplätze, Rastplätze usw. gilt. Auch wichtige Wege durch den Auwald wie die Linie, die Neue Linie, der Kilometerweg stehen im Straßenverzeichnis. Möglicherweise wäre die aktuelle Situation auch ein guter Anlass für die Kommune, ein Weg-Konzept für den Leipziger Auwald zu entwickeln: welche Wege sind von hoher Relevanz für den Rad- und Fußverkehr und könnten wie behandelt werden? Welche Wege sind irrelevant oder gar entbehrlich, könnten gar im Sinne des Schutzgebietes rückgebaut werden? Welche Wege sind illegal angelegte Wege von Unbekannten und haben solche illegalen Wege negative Auswirkungen auf das Schutzgebiet? Bisher hat sich unseres Wissens nach niemand um solche Fragen gekümmert: ein Versäumnis! Doch zurück zum Thema.

Am 22.07.2020 erschien in der Leipziger Volkszeitung ein Artikel, welcher uns ein wenig wunderte. 6 Die Schlagzeile lautete: „Umstürzende Bäume – Sperrung von Teilen des Auwaldes möglich. Gerichtsbeschluss macht Verkehrssicherung im Forst komplizierter / Eigenes Verfahren dazu nötig“.

Unter anderem heißt es in dem Artikel:

Ab sofort wird das Krisenmanagement sogar noch schwieriger. Wie berichtet, muss die Stadt bei Eingriffen in den Auwald laut dem jüngsten Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bautzen erst prüfen, ob die Maßnahme auch gemäß der Richtlinien des Flora-Fauna-Habitats (FFH) verträglich ist. Diese Überprüfung ist unter Beteiligung der anerkannten Naturschutzverbände durchzuführen – und kann also länger dauern. Die Stadt Leipzig werde dazu ein gesondertes Verfahren einführen, erläutert der zuständige Leiter des Amtes für Stadtgrün und Gewässer, Rüdiger Dittmar. Nur wenn unmittelbar Gefahr für die Gesundheit und das Leben der Bürgerinnen und Bürger bestehe, werden angeschlagene Bäume sofort und ohne Verträglichkeitsprüfung beseitigt. Die Kommune führe in den Waldbereichen entlang von Straßen, gewidmeten Wegen, Plätzen und Eisenbahnlinien regelmäßig visuelle Kontrollen zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit durch, so Dittmar. Bei dem am Montag umgestürzten Baum seien allerdings äußerlich keine Hinweise auf eine Schädigung erkennbar gewesen. In früheren Jahren waren solche altersschwachen Kandidaten vorsorglich im Rahmen der sogenannten Sanitärhiebe mitentfernt worden. Das sei nun nicht mehr möglich. Jetzt müsse dazu das neue Verfahren anrollen. Im Auwald könnte die Sicherheitsfrage demnächst sogar das Betreten von Leipzigs grüner Lunge verhindern. ‚Im Einzelfall können Sperrungen bestimmter Waldbereiche zur Vermeidung von Gefahrensituationen nicht ausgeschlossen werden‘, sagt Dittmar.“

Umgestürzte Eiche am Nonnenweg

Umgestürzte Eiche am Nonnenweg 2020. Foto: J. Hansmann

All dies ist dann doch etwas grob formuliert, aber es ist ja auch nur ein Zeitungsartikel. Ja, es gab einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bautzen, welches bei Eingriffen im FFH-Gebiet „Leipziger Auensystem“ eine FFH-Verträglichkeitsprüfung fordert. In diesem Beschluss geht es v.a. um den Forstwirtschaftsplan 2018, laut dem im FFH-Gebiet „Leipziger Auensystem“ sehr intensiv forstlich eingegriffen werden sollte. Dabei geht es u.a. um Sanitärhiebe, aber nicht nur – und bei dem Beschluss geht es nicht um Verkehrssicherungspflichten!

Ja, was sind denn nun Sanitärhiebe? Der Begriff „Sanitärhieb“ kommt aus der Forstwirtschaft, er ist nicht deckungsgleich mit Maßnahmen zur Verkehrssicherungspflicht, auch wenn es hier Überschneidungen geben kann, aber nicht muss.

Das Landeszentrum Wald Sachsen-Anhalt beschreibt dem Begriff „Sanitärhieb“ wie folgt:

Geringfügige Zwangsnutzungen in erkrankten Beständen, die vorsorglich im Pflegehiebsplan (Jung-/Altdurchforstung) zu veranschlagen sind, da diese Nutzungsmassen den Hiebssatz beeinflussen können“ 7

Und auch das gute alte Wikipedia hat eine für alle nachlesbare Definition parat:

Als Sanitärhieb bezeichnet man das Fällen von absterbenden oder toten Bäumen beziehungsweise Baumgruppen außerhalb der planmäßigen Nutzung. Einerseits sollen benachbarte Bäume vor der jeweiligen Erkrankung (insbesondere Schädlingsbefall) geschützt werden, aber auch ist es Ziel, die Stämme vor ihrer Entwertung noch zu nutzen. Das Wort leitet sich vom lateinischen sanitas (Gesundheit) her. Gemeint ist hier der Schutz der Gesundheit der noch nicht befallenen Bäume. Regional wird dieses Vorgehen auch als ‚Sammelhieb‘, ‚Säuberungshieb‘ oder ‚Totalitätshieb‘ bezeichnet.“ 8

Bei einem Sanitärhieb geht es also überhaupt nicht um Verkehrssicherungspflichten. Sie betreffen offenbar auch ein größeres Gebiet als nur den Rand eines offiziellen Weges. Ein Straßen- oder Wegrand, auch der Rand um einen Spielplatz im Wald ist immer linear – ein Sanitärhieb geht aber in die Fläche. Sicher können während eines Sanitärhiebes auch Maßnahmen zur Verkehrssicherungspflicht an Wegen, die zufällig durch das Gebiet führen, mit erledigt werden, aber dennoch sind dies zwei unterschiedliche Dinge.

Wenn also durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bautzen Sanitärhiebe erschwert werden, weil vorher eine FFH-Verträglichkeitsprüfung stattfinden muss – Maßnahmen zur Verkehrssicherungspflicht betrifft dies nicht.

Und im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bautzen wird dies auch genau so kommuniziert. Wir zitieren:

Ungeachtet der vorstehenden Erwägungen bleiben Sanitärhiebe, wenn und soweit sie sich im Einzelfall tatsächlich als Reaktion auf aktuelle Probleme darstellen, etwa um die Verkehrssicherheit zu gewährleisten, auch bei einer angenommenen erheblichen Gebietsbeeinträchtigung nach Maßgabe von § 34 Abs. 3, 4 BNatSchG bzw. Art. 6 Abs. 4 FFH-RL zulässig.“

Dies dürfte doch bedeuten, dass entlang offizieller Straßen und Wege sowie Spielplätzen, Rastplätzen usw. durchaus Maßnahmen im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht durchgeführt werden können, die Stadt Leipzig ist ja geradezu dazu verpflichtet.

Abgängige Bäume

Abgängige Bäume im FFH-Gebiet “Leipziger Auensystem” 2020. Foto: J. Hansmann

Wir haben eine zweijährige Dürre hinter uns und auch das Jahr 2020 ist nicht wirklich von vielen Niederschlägen geprägt. Nicht nur im Leipziger Auwald hat dies Folgen, so sind inzwischen anderswo ganze Parks gesperrt, bspw. der Schloßpark Nischwitz. 9 Zwar geht es hier um die Ahornrußrindenkrankheit und im Leipziger Auwald eher um das Eschentriebsterben, aber in beiden Fällen trifft hier eine Krankheit auf durch Dürre geschwächte Organismen. Wegen des Eichenprozessionsspinners, der durch das warme Klima ebenfalls sehr stark begünstigt ist, ist momentan auch der Schloßpark Zschepplin gesperrt. 10 Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft in vielen Wäldern und Parks Sperrungen in besonders betroffenen Gebieten erfolgen werden – aber die offiziellen Straßen und Wege werden trotz allem im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht überall entsprechend weiter untersucht werden müssen. Der Klimawandel hat eben spürbare Folgen – überall. Dennoch sollten wir nun nicht in allen Wäldern und Parks alle Bäume fällen. Dies wäre fatal, da wir die Wälder (und auch alte Baumbestände in Parks) dringend brauchen: für unser Klima, für unsere Luft und auch für die Artenvielfalt. Mit erkrankten Beständen sollten wir möglichst sorgsam umgehen. Das klassische Vorgehen, mit schwerem Gerät auf breiter Fläche radikal erkrankte Bäume zu entnehmen, schädigt die Waldlebensgemeinschaften um so mehr. Es sollte uns bewusst sein, dass jede größere Fläche, die wir jetzt komplett beräumen, im schlimmsten Fall (wenn die Dürre noch weiter anhält) in den nächsten Jahrzehnten eine kahle Fläche bleiben wird und auf absehbare Zeit den Charakter eines Waldes komplett verlieren kann – denn wie sollen neu angepflanzte Bäume ohne signifikanten Regen wachsen? Wo es möglich ist, kann es u.U. durchaus besser sein, abgestorbene Bäume schlicht zu belassen, um die Situation nicht noch zu verschlimmern: auch ein abgestorbener Baum bietet noch Schatten und Schutz, schafft Strukturen. Verfahren aus dem Gartenbau wie Mulchen funktionieren ebenso nach diesem Schema.

Wenn laut §13 des Waldgesetzes für den Freistaat Sachsen eine Sperrung in einigen Bereichen notwendig wäre und dies einige namenlose Waldwege beträfe, wäre dies zwar nicht schön, aber eine Lösung, die in den Zeiten eines menschenverursachten drastischen Klimawandels schlicht praktisch ist:

Der Waldbesitzer kann aus wichtigen Gründen, insbesondere aus Gründen des Waldschutzes, des Waldbrandschutzes, der Wald- und Wildbewirtschaftung, zum Schutz der Waldbesucher, zur Vermeidung erheblicher Schäden oder zur Wahrung anderer eigener schutzwürdiger Interessen das Betreten des Waldes einschränken (Sperrung).“ 11

Kotpillen von Osmoderma eremita

Kotpillen der Larven des Osmoderma eremita aus der Eiche am Nonnenweg 2020. Foto: J. Hansmann

Für die Flora und Fauna des Leipziger Auenwaldes wären für den Besucherverkehr gesperrte Ruhezonen sogar von Vorteil, sind doch zunehmend Nutzungskonflikte aller Art zu Ungunsten der Natur zu verzeichnen. 12 Und der vernünftige Bürger, der den Auwald schätzt, würde in einem solchen Falle sicher mit Rücksicht einen gekennzeichneten Bereich meiden, der von dem Klimawandel besonders stark beeinträchtigt ist und Ruhe bedarf.

Halsschilde Osmoderma eremita

Zwei Halsschilde von Eremiten vom Baum am Nonnenweg 2020. Foto: J. Hansmann

Relevante Rad- und Fußgängerverbindungen sollten gesondert betrachtet werden, sicher ließen sich auch hier Lösungen finden.

In unserem vorliegenden Fall, dem Nonnenweg, der ja sowieso anscheinend eine offizielle Straße ist, ist die Lage aber aus anderen Gründen tragisch, da der umgestürzte Baum sogar ein Brutbaum (quasi ein Wohnhaus) des streng geschütztem Osmoderma eremita, einem Käfer, war – was aber unseres Wissens nach nicht bekannt und auch für uns nicht ersichtlich war.

Osmoderma eremita

So sieht der Eremit aus, hier ein Lebendfund aus dem Leipziger Rosental 2020. Foto: J. Hansmann

Diese Käfer mit dem deutschen Namen „Eremit“ sind sehr selten, eben weil sie in alten Bäumen leben. Oft werden solche alten Bäume Opfer von Maßnahmen im Rahmen der Wegesicherungspflicht. Hätte man die Eiche im Rahmen der Wegesicherung entfernt, wäre dies durchaus ein Interessenskonflikt zwischen einer seltenen Art und der Sicherheit der Passanten gewesen – aber dies wäre auch klar geregelt gewesen zugunsten der menschlichen Passanten.

Aber für den streng geschützten Eremiten und auch andere seltene Arten ist es ihre einzige Chance auf Überleben gerade in Zeiten des Klimawandels, dass es noch alte Bäume gibt, welche nicht im Rahmen von Maßnahmen zur Wegesicherung gefällt werden. Und für uns sind diese alten Bäume ebenso wichtig, brauchen wir sie doch für unser Klima, unsere Luft und unser Wasser.

Die Käfer wie auch wir müssen eben alle mit den Unwägbarkeiten des Lebens umgehen und konstruktive Wege zum (über)leben finden.

Wie viele Käfer übrigens durch das Umfallen des Baums verstorben sind, ist uns nicht bekannt.


Das Urteil des OVG Bautzen können Sie auch hier nachlesen:

200609_OVG_Beschluss_(278550)


 

1 V. Joos: „Die Verkehrssicherungspflicht auf privaten Grundstücken“, Ludwigsburg 2009, S. 4

2 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=61743&linked=pm&Blank=1

3 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=67207&linked=urt&Blank=1&file=dokument.pdf

4 https://www.praxis-agrar.de/pflanze/forst/verkehrssicherungspflicht-der-waldbesitzer/

5 https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.1_Dez1_Allgemeine_Verwaltung/12_Statistik_und_Wahlen/Raumbezug/Strassenverzeichnis.pdf

6 Leipziger Volkszeitung vom 22.07.2020, S. 16

7 https://landeszentrumwald.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/MLU/Waldbau/Definitionen_wichtiger_forstlicher_Begriffe.pdf

8 https://de.wikipedia.org/wiki/Sanit%C3%A4rhieb

9 https://www.mdr.de/kultur/klimawandel-denkmalschutz-100.html

10 https://www.lvz.de/Region/Eilenburg/Gesundheitsgefahr-Schlosspark-Zschepplin-ist-gesperrt

11 https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/5405-SaechsWaldG#p13

12 https://www.l-iz.de/politik/brennpunkt/2020/07/Der-Leipziger-Auenwald-braucht-endlich-professionelle-Naturparkranger-341587

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