Die Wahrheit im Schatten des Fortschritts. Kolumne zum 49. Konzert: Alle Jahre wieder-Weihnachten mit amarord

Die Wahrheit im Schatten des Fortschritts

Als Kind habe ich mir gelegentlich vorgestellt, Außerirdische besuchen die Erde. Und wie das bei Träumen so ist, passiert etwas überaus Unwahrscheinliches: Ausgerechnet ich habe Kontakt mit diesen Aliens. Ausgerechnet ich soll ihnen das Treiben der Menschen auf der Erde erklären. Und das war schon vor einigen Jahrzehnten angesichts des Hungers, der Kriege, Missstände und Fehlentwicklungen keine einfache Aufgabe.

Seither ist einiges geschehen. Der technische Fortschritt scheint immer schneller und größer zu werden. Handys können bestimmt auch bald rasieren oder wenigstens die Haare fönen. Von einer neuen industriellen Revolution ist die Rede. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz lassen die Herzen von Technikfans höher schlagen und ihre Augen strahlen wie die von Kindern zur Weihnachtszeit. Und scheinbar völlig unabhängig vom Benzinpreis vermehren sich die Pkw und werden zudem immer größer und schwerer.

Ob wir mit unserem relativ weit verbreiteten Luxus nun glücklicher leben, wage ich zu bezweifeln. Selbst wenn, dann ist der Wohlstand ausgesprochen ungleich verteilt. Viel gleichmäßiger verteilt sind da die zahlreichen Gifte der modernen Landwirtschaft. Die Bezeichnung konventionelle Landwirtschaft möchte ich vermeiden, denn konventionell, das heißt seit Tausenden von Jahren, ackern die Bauern ökologisch und biologisch. Erst seit historisch sehr sehr kurzer Zeit haben die großen schweren Maschinen, das technisch und genetisch veränderte Saatgut, die Ackergifte in großer Zahl und der synthetische Dünger das Kommando in der Landwirtschaft übernommen. Mit anderen Worten: Der technische Fortschritt mit seinen Verheißungen hat Einzug gehalten.

Und angesichts der wachsenden Weltbevölkerung meinen nicht wenige Menschen, dass all die Milliarden ohne moderne Landwirtschaft gar nicht mehr zu ernähren sind. Aber neulich las ich von Dr. Andrea Beste, einer Agrarwissenschaftlerin, die Bundestag und Europaparlament berät und die 160 weltweite Studien zu landwirtschaftlichen Anbaumethoden und deren Ertrag untersucht hat: Der Ökolandbau schafft in unseren Breiten erstaunliche 92 Prozent der Erträge der modernen Landwirtschaft. In den Tropen übertrumpft der ökologische Anbau den modernen Anbau mit bis zu 174 Prozent!

Moderne Landwirtschaft ist also gar nicht wirklich ertragreicher als Ökolandbau. Dafür töten die Ackergifte die Insekten und die Mikroorganismen im Boden. Sie belasten das geerntete Obst und Gemüse. Sie verbreiten sich auch bei sachgemäßer Anwendung über die Luft, wie das Umweltinstitut München zusammen mit dem Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft unlängst belegt hat. Sie belasten sogar das Grundwasser, so dass sich die in Bezug auf die Landwirtschaft weitestgehend untätige Bundesregierung genötigt sah, den gesetzlichen Rahmen zu verschärfen. Immerhin droht die EU mit Strafzahlungen von 850.000 Euro – pro Tag wohlgemerkt!

Aber die Lobby der modernen Landwirtschaft und der eng damit verbundene chemische Industrie geben so einfach nicht auf, obwohl der gesunde Menschenverstand nach Ökolandbau verlangt. Zumal die industrielle Landwirtschaft eigentlich auch nur mit Subventionen überlebt. Rund 40 Prozent des gesamten Budgets der EU sind Subventionszahlungen an Europas moderne Landwirtschaft, die ansonsten großflächig pleite wäre.

Jedenfalls stehen in Südtirol Umweltschützer vor Gericht, die eigentlich nur gezählt haben, dass in der dortigen Landwirtschaft 20 Mal pro Saison Ackergifte gespritzt werden, und diese Wahrheit veröffentlichten. Üble Nachrede lautet die Anklage, auch wenn sie nur die Wahrheit ist.

Und hier wird es spannend. Denn aus dem Wettstreit der Gifte wird ein Wettstreit der Wahrheiten. So wie Weltverschwörer und amerikanische Präsidenten gern alternative Wahrheiten verbreiten. Mitunter scheinen es gar alternative Fakten zu sein. Unsere Diskussionskultur hat ohnehin jeden Fortschritt verschlafen. Das Streiten ist oft eher ein Tönen und Beleidigen, weniger ein Zuhören oder Austauschen oder auch nur eine Offenheit und Bereitschaft dazu.

Wo ist die Vernunft, wenn wir sie brauchen? Wo ist der Wille, über den eigenen Schatten zu springen? Zu Weihnachten werden wir Menschen immer kurz andächtig und brav. „Die Menschen bauen zu viele Mauern und zu wenig Brücken.“ Das Zitat stammt vom Physiker Isaac Newton und ist rund 300 Jahre alt. 300 leere Versprechen, es besser zu machen.

Adventskonzert: Sonntag, 29. November 2020 um 17 Uhr im Kupfersaal, Kupfergasse 2.
„Alle Jahre wieder – Weihnachten mit amarcord“
Vokalensemble amarcord auf Einladung des NuKLA e.V. mit adventlichen Motetten und internationalen Weihnachtsliedern

Frank Willberg

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