Träge ist die Vernunft – oder verkümmert: von Frank Willberg
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Wir sind es gewöhnt, reißerische Überschriften gelassen zu verdauen. Übertreibungen und immer durch die negative Brille sind vollkommen normal. Wir haben uns derart daran gewöhnt, dass die Medien sich kaum trauen, uns etwas anderes zu anzubieten. Und wenn sie sich einmal auf eins zwei Themen versteift haben, besteht unsere mediale Welt nur noch aus Ukraine, Corona und Inflation. Nah ist der Tellerrand und dementsprechend eng der Horizont.
Das ist wechselseitige Routine. Wenn jemand „Lügenpresse“ ruft, sollten wir uns dieser Dialektik bewusst werden. Dialektik – dieses alte Hegelianische Wort, was vorbildlich mahnt, dass alles seine zwei oft vollkommen verschiedenen Seiten hat, die zudem miteinander verbunden sind und die wir beide zusammen denken und verstehen müssen.
Das heißt, gute Journalisten und Journalistinnen schreiben nicht so gute Beiträge, weil sie – zu Recht oder Unrecht – davon ausgehen, dass wir sie so lesen wollen, dass wir sie so verstehen können. Wer böse Absicht unterstellt, Zensur oder Propaganda, macht es sich einfach. Zu einfach. Nein, viel zu einfach.
Dass wir uns vielfach in mehr oder weniger kleine Blasen begeben, in denen eine uns genehme herrschende Meinung das Zepter schwingt, macht eine Wahrheitssuche nicht einfacher. Denn aus verschiedenen Blasen heraus, in denen alle Recht haben, lässt es sich schwer mit den Bewohnern fremder Blasen diskutieren. In jeder Blase gibt ja auch Experten, von deren Autorität wir uns gern etwas borgen, um weiter das wonnige Gefühl zu genießen, mit Sicherheit im Recht zu sein.
Damit möchte ich keinesfalls behaupten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seien auch nur Blasenmenschen. Erstens sind sie das Argumentieren gewöhnt. Sie schaffen das zumeist auch, ohne sich an die Gurgel oder unter die Gürtellinie zu gehen. Und zweitens gibt es eben auch fast immer gute Gegenargumente. Ein zeitgenössischer Philosoph schrieb sinngemäß: Jemand vertritt eine andere Meinung. Das sollten wir erst nehmen, denn er oder sie könnte Recht haben.
Aber wie weit sind wir von dieser umsichtigen Haltung oft entfernt?! Statt miteinander zu diskutieren und sich gemeinsam einer Wahrheit anzunähern, kämpfen wir um die Wahrheit, als könnte Stärke oder auch Lautstärke tatsächlich irgendeinen Sieg erringen.
Ob sich die US-amerikanische, die brasilianische oder die deutsche Gesellschaft momentan wirklich spalten, ob das überhaupt geht, weiß ich nicht. Aber wenn außer dem gleichen Eintrag der Nationalität im Ausweis kaum gemeinsamer Grund besteht, auf dem sich gut diskutieren lässt, haben wir ein echtes gesellschaftliches Problem. Denn von Zeit zu Zeit müssen wir uns verständigen und einigen. Auch und gerade über Vorbehalte und Blasengrenzen und den schönen Schein im Blaseninneren hinweg.
Leider hat uns Corona gelehrt, wie leicht der Spaltpilz ebenso gesellschaftlich wie privat ausbricht und wie nichtexistent klein der gemeinsame Nenner danach ist. Wie leicht Freundschaften und sogar Familien zerbrechen. Und natürlich würde sich auch der verschandelte Leipziger Auwald freuen, wenn alle Beteiligten all ihre Scheuklappen ablegten und die Aue dynamisierten. Weil immer klarer wird, dass das richtig ist. Nur träge ist die Vernunft und unbequem die Wahrheit außerhalb der Blase…
Adventskonzert: Sonntag, 27. November 2022 um 19.30 Uhr in der Paul-Gerhardt-Kirche , Selnecker Straße, Leipzig-Connewitz
„GAUDETE-Freut euch! mit amarcord“
Frank Willberg
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