Scheinheilige Nacht

Leipziger Auwald (Ratsholz) Dezember 2022. Foto: J. Hansmann

Gastbeitrag von Frank Willberg

Eine lebhafte Diskussion über die kleinen und großen Missstände der Welt. Ich auf dem Weltverbesserer-Standpunkt. Mein Freund zurückhaltender, skeptischer, sicher ein herzensguter Mensch, aber auch katholisch konservativ. Das ist schnell zu spüren. Seine Frau hat so wie er auch etwas studiert. Aber nun ist er der Ernährer der wachsenden Familie. Sie könnte zwar eine helfende Hand im Haushalt gebrauchen. Aber er muss ja mit mir diskutieren, möchte für uns nebenbei ein Getränk serviert bekommen. Ich fühle mich unwohl beim Rumsitzen, würde lieber helfen oder zu dritt diskutieren. Mein Unbehagen nimmt noch zu, als es klingelt. Denn beim zweiten Mal steht mein Freund nicht auf, sondern fordert seine Frau – freundlich aber bestimmt – auf, endlich hinzugehen.

Aber zurück zu unserer Diskussion. Ich freue mich eigentlich immer, Standpunkte und Argumente auszutauschen. Selbst wenn manche sich ihre Argumente ganz schön zurechtbiegen. Nur viele scheuen den offenen Austausch. Vielleicht, weil ihre Weltsicht Kratzer bekommen könnte. Vielleicht, weil sie ahnen, dass ihre Weltsicht etwas viel Rosarot enthält. Mein Freund jedenfalls war offen, sozusagen mutig. Erst als seine Argumente ins Hintertreffen gerieten, zog er seinen Joker. Er meinte, das Leben, diese Erde, diese Menschen sind nicht so wichtig. Also schon wichtig, aber eben nicht so wichtig wie sein Streben nach dem Leben nach dem Tod.

Der paradiesische Tod machte mich in der Tat sprachlos. Irgendwie glaubte ich etwas anderes, dass Christen die Schöpfung irgendwie schon auch achten und ehren und erhalten sollten. Aber das ist wohl doch die Art von Lippenbekenntnissen, die Idealisten erst später als Lüge erkennen. Belüge deinen Nächsten wie dich selbst.

Eigentlich auch ein schönes Motto für Weihnachten. Da sind Kratzer an der heiligen heilen Welt besonders verboten. Katholiken haben es so gesehen teuflisch leicht: Erstens ist das Leben vor dem Tod nicht entscheidend. Zweitens können sie sich von ihren Sünden reinwaschen mit etwas Beichte und Absolution.

Den Kniff gibt es im Protestantismus nicht so. Aber hier gilt der Mensch von vornherein als schwach und sündig. Sein Fehlverhalten ist vorprogrammiert, wenig überraschend. Harte Arbeit hilft dennoch, wer eine Eintrittskarte zum Paradies ergattern möchte. Harte Arbeit und viel Ausbeutung haben uns reich gemacht. Schön reich in einer nicht heilen Welt? Ist eigentlich noch genug Platz in der Hölle?

Meinen Achtklässlern bringe ich in Ethik nahe, was es zum Erwachsen werden braucht, dass zur eigenen Identität gehört, sich selbst zu kennen und quasi anzuerkennen – mit allen Stärken und Schwächen. Und damit kann ich den Spruch von weiter oben im Text jetzt richtig zu Papier bringen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Also sei ehrlich und vergiss die Schwächen nicht. Nicht bei dir, nicht bei anderen.

Wer sich selbst eine heile Welt vormacht, hat und verkörpert die schlimmsten allen Schwächen und Sünden: Selbstgefälligkeit und Unehrlichkeit. Daraus ließe sich eine dritte Version des Bibelspruchs ableiten: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst.

Leipziger Auwald (Burgaue) im Dezember 2022. Foto: J. Hansmann

Manchmal ist der Nächste ein Teilnehmer an der Uno-Biodiversitätskonferenz in Montreal und beschließt, dass bis 2030 mindestens 30 Prozent der Welt unter Schutz gestellt werden und die Gefahr durch Pestizide halbiert wird. Aber wer bitteschön kann so einen tollen Quatsch glauben, wenn ein grüner Minister viele neue Ackergifte zulässt. Und die alten Ackergifte finden sich längst überall in Deutschland, auch in Naturschutzgebieten, auch solche, die verboten sind, auch solche, die noch nie zugelassen waren. Ihr müsst mal beim Umweltinstitut München nachlesen.

Manchmal ist der Nächste ein Förster, der auch im Naturschutzgebiet Forstwirtschaft betreiben will. Siehe: https://www.nukla.de/2022/12/forstwirtschaftsplan-2022-teil-ii/ Zugegeben, weder lernen Bauern Landwirtschaft ohne Pestizide, noch lernen Förster, wie ein Wald ökologisch gehegt wird. Vielleicht glauben Förster an das Gute im Forst(en). Sicher wollen sie die Öffentlichkeit glauben machen, ihr Tun wäre gut und alternativlos und sogar ökologisch. Heutzutage geben sich ja alle Mühe, ökologisch zu sein.

Aber wir wissen, dass fast nichts von unserem Tun wirklich ökologisch und ehrlich ist. Auch und gerade zu Weihnachten. Also angenehme scheinheilige Nacht.

Frank Willberg

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