Die Widersprüchlichkeit der EU-Biodiversitätsstrategie

Abgestorbener Baum im FFH-Gebiet “Leipziger Auensystem” im Juni 2020. Foto: J. Hansmann

Ein Beitrag von J. Hansmann (Aueninstitut für Lebendige Flüsse)

Stellen sie sich vor, es gäbe eine Gemeinschaft, der es schlecht geht derzeit. Mitglieder dieser Gemeinschaft leiden unter den aktuellen Klimaveränderungen. Wir alle wissen, es wird immer wärmer und trockener, und gerade Perioden mit bspw. extrem heißem Wetter sind für viele anstrengend. Einige der Gemeinschaft trinken zu wenig, was im Sommer gar nicht gut ist. Es gab sogar schon Tote, und immer noch sterben manche, die Spätfolgen von den letzten Hitzewellen der vergangenen Jahren davon getragen haben. Und sicher werden auch diesen Sommer noch einige heiße Tage auf uns zu kommen.

Was würde man nun, rein intuitiv, mit einer solchen Gemeinschaft tun?

Natürlich kann man das Klima nicht auf Knopfdruck ändern. Aber man könnte ja versuchen, der Gemeinschaft das Überleben bei den derzeitigen Klimaveränderungen zu erleichtern. Doch wie? An heißen Tagen sollte eine so anfällige Gemeinschaft sich dort aufhalten, wo es kühl ist. Wie sagt man: nur morgens und abends lüften und die Fenster tagsüber geschlossen halten, am besten noch Vorhänge vor die Fenster hängen, damit die Hitze nicht eindringt.

Auf keinen Fall sollte man die Gemeinschaft noch mehr stressen – gerade wenn Kranke darunter sind, welche eher Ruhe benötigen zur Heilung. Auch sollte man ihnen nicht Wasser wegnehmen, sie brauchen es ja in den heißen Tagen, die sicher bald wieder kommen. Vielmehr sollte man ihnen sogar mehr Wasser geben als bisher! Und die Kranken, von denen wir nicht wissen, welche wieder gesund werden und welche nicht, sollten alle möglichst schonend behandelt werden – nicht nur die, die man besonders sympathisch findet.

Stellen sie sich vor: Den Kindern der Gemeinschaft geht es teilweise gar nicht mal so schlecht, dennoch sollte man auch sie schonend behandeln. Sie spüren ja, dass die Erwachsenen und Alten leiden. Und einige der Kinder leiden auch. Vielleicht könnte man die Gemeinschaft unterstützen, in dem man sich um den Nachwuchs kümmert.

Auf keinen Fall machte es Sinn, die Gemeinschaft zu stören oder gar zu zerstören.

All dies wären logische Überlegungen, wenn es sich bei einer solchen Gemeinschaft um eine menschliche Gemeinschaft handeln würde.

Aber hier geht es um Waldlebensgemeinschaften, und hier handeln wir Menschen ganz anders. Natürlich sind Waldlebensgemeinschaften keine menschlichen Gemeinschaften und sollen nicht vermenschlicht werden – aber alle lebenden Organismen haben durchaus ähnliche Ansprüche. Sie brauchen bspw. Wasser, Nährstoffe und bestimmte Umweltbedingungen. Und so lassen wir obiges Beispiel zur Verdeutlichung stehen um zu zeigen, wie seltsam wir oft mit anderen Lebewesen umgehen.

“Femelloch” im FFH-Gebiet “Leipziger Auensystem” im April 2018. Foto: J. Hansmann

Komplexe lebendige Waldgemeinschaften werden trotz Dürre und Hitze nach wie vor vielerorts„aufgelichtet“, sprich, man entnimmt Teile der Gemeinschaft. Oft will man die Bäume schlicht verkaufen so lange es noch geht, teilweise verspricht man sich davon, dass die anderen umstehenden Bäume dicker werden – die man dann später, irgendwann in der Zukunft verkaufen kann. Teilweise wird sogar die ganze Waldlebensgemeinschaft auf größeren Flächen bis auf wenige ältere Exemplare – und manchmal nicht mal dies – komplett vernichtet und neu aufgeforstet (oft mit gebietsfremden Arten, von denen man sich erhofft, dass sie besser mit dem Klima wachsen und mehr und schneller Geld bringen in Zukunft). Damit wird aber das Waldklima negativ beeinflusst, wenn nicht gar flächig zerstört, und es gehen standorttypische Waldgemeinschaften verloren. Der gewachsene Waldboden wird ebenso geschädigt.

Was ist das Waldklima? Innerhalb einer Waldlebensgemeinschaft bildet sich unterhalb des Kronendachs ein eigenes Klima aus, dass sich vom Klima der Umgebung unterscheidet. Temperaturextreme werden abgemildert, wenn es besonders kalt oder besonders heiß ist, gleicht das Waldklima dies aus. Zudem ist es im Wald windgeschützt. An heißen, windigen Sommertagen, wo der Wind auch noch den letzten Tropfen Wasser aus umliegenden Ackerflächen noch herauszieht und alles austrocknet, kann es nicht genug Windschutz geben.

In einfache Sprache übersetzt: wird das Waldklima negativ beeinflusst oder stellenweise zerstört, ist quasi an heißen Sommertagen das Fenster der sonst kühlen Wohnung sperrangelweit offen und die Hitze dringt unbarmherzig ein in die Wohnung. Dabei sollte man doch noch eher Vorhänge vor die Fenster hängen, damit es innen kühl bleibt…

Flächig befahrener Waldboden entlang einer Rückegasse im FFH-Gebiet “Leipziger Auensystem” Februar 2019. Foto: J. Hansmann

Wird Waldboden bspw. durch Befahrung geschädigt, verliert er seine Fähigkeit, Wasser zu speichern – oder diese wird mindestens stark beeinträchtigt. Auch dies ist fatal für eine Waldlebensgemeinschaft, gerade in Zeiten von Hitze und Dürre. Viele Wälder werden durch wasserbauliche Maßnahmen, von Gräben bis hin zu großen Entwässerungskonzepten, auch heute noch drainiert – was sich ebenfalls negativ auswirkt.

Ruhe zur Heilung wird den Erkrankten auch nicht gelassen. Stattdessen werden die Erkrankten oft pauschal nach und nach „entnommen“. Dabei hätten die Nachkommen derer, die wieder gesund werden, gute Voraussetzungen, besser den Kapriolen des zukünftigen Klimas und möglichen Krankheiten zu widerstehen. Die Gesunden werden durch die „Entnahme“ der Kranken mit geschädigt, da der Mensch in den modernen Zeiten all zu oft mit schweren Maschinen im Wald arbeitet. Für einen Baum ist sein Wurzelgeflecht und das seiner Nachbarn überlebenswichtig, denn es handelt sich dabei um ein großes komplexes symbiotisches System zwischen Bäumen und Pilzen. Durch Rückeschäden (wenn eine Maschine aus Versehen einen gesunden Baum beschädigt) und die plötzliche Freistellung leiden die Gesunden zusätzlich.

Die für uns Menschen kostenlose Naturverjüngung unserer standorttypischen Waldlebensgemeinschaften, die vielfach auch von gesunden einheimischen Bäumen oder auch Bäumen mit Potential zur Genesung abstammt, wird oft überhaupt nicht beachtet – dabei ist diese Naturverjüngung ein Geschenk der Natur, dass wir unbedingt leben lassen, ja, fördern sollten.

Flächiger Windbruch in der Dübener Heide

Flächiger Windbruch in der Dübener Heide März 2018 infolge des Orkantiefs Friederike. Foto: J. Hansmann

In einem Wald gehört der Tod wie überall zum Leben und abgestorbene Bäume haben dort Funktionen. In abgestorbenen Bäumen finden zahlreiche selten gewordene Organismen neue Lebensräume. Abgestorbene Bäume spenden aber letztlich auch Schatten, sind noch Windschutz, wirken wie Kältepumpen.

Wenn Flächen nach einem Holzeinschlag, einer Kalamität oder einem Windwurf komplett beräumt werden, gibt es auf diesen Flächen keinen Schatten mehr und keinen Windschutz. Dabei spenden selbst liegende Stämme noch Schatten, Windschutz und halten Wasser im Wald. Sind es kleine Flächen, mag eine Waldlebensgemeinschaft eine Beräumung noch verkraften, aber je größer die Flächen, desto schädlicher wirken sich Kahlschlag und Beräumung aus. Die Folgen sind in ihrer Gesamtheit über die oben genannten Aspekte hinaus komplex und wirken sich auch anderweitig auf die Gesundheit der gesamten umliegenden Waldlebensgemeinschaft aus.

Wälder sind vielfältig. Manches, was man Wald nennt, ist manchmal eher eine Forstkultur, welche gar nicht mehr viel mit einer Waldlebensgemeinschaft zu tun hat. Auch gibt es zahlreiche Mischformen zwischen Holzplantagen und Wäldern. In manchen Holzplantagen wächst unter monoton gepflanzten standortuntypischen Bäumen ein weitaus naturnäherer Wald aus Naturverjüngung heran, wird aber oft nicht gefördert, sondern zerstört, um erneut standortuntypische Forstkulturen anzulegen. Während Forstmonokulturen mit unpassenden Baumarten oft mehr unter dem Klima leiden, sind naturnahe Waldlebensgemeinschaften meist widerstandsfähiger. Aber auch sie leiden natürlich nach zwei Jahren der Dürre – und auch im dritten Folgejahr hat es noch nicht genug geregnet in manchen Regionen. Warum zerstört und beeinträchtigt man diese Waldlebensgemeinschaften? Warum fördert man sie nicht? Warum nutzt man ihre natürliche Verjüngung nicht?

Naturverjüngung unter Nadelbäumen in der Dübener Heide Juli 2020. Foto: J. Hansmann

Ob Holzplantage, die aber auf gewachsenem Waldboden steht und unter der ein junger standorttypischer Wald aufkommt, oder naturnaher Wald: mit beiden sollte man sorgsam umgehen – bei dem einem wegen dem Potential, beim anderen, weil die Zerstörung ein unwiderbringlicher Verlust ist. Hektarweise Bäume zu fällen, weil diese krank sind, absterben usw., nur um die Flächen dann komplett zu beräumen, mit schweren Maschinen zu bearbeiten und dann im schlimmsten Falle wieder neue, standortuntypische Baumarten auszubringen, in der Hoffnung, diese würden schneller wachsen und schnellen Ertrag bringen, schädigt in jedem Fall den Boden wie auch die umliegenden Lebensgemeinschaften. Die Systeme unserer Waldlebensgemeinschaften sind zu komplex und auch zu wenig erforscht, als dass man mit solchen altmodischen Dampfhammermethoden Wälder (welcher Art auch immer) wie ein Maisfeld beackern und gar künstlich neu anlegen sollte.

Wir Menschen sind uns bewusst, dass Wälder aus vielerlei Gründen für uns wichtig sind. Manche sehen in Wäldern schlicht Stätten oder gar Fabriken, wo Holz erzeugt wird. Aber Wälder sind noch aus vielen anderen Gründen wichtig. Sie sind äußerst relevant für die Artenvielfalt, unabdingbar für die Grundwasserneubildung, wesentlich für das Klima (Wälder haben auch Funktionen bei der Erzeugung von Wolken) usw. usf.

In der neuen Biodiversitätsstrategie der EU für 20301 stehen viele interessante Dinge, und auch zu Wäldern ist einiges zu lesen, wie man Wälder schützen, ihre Gesundheit verbessern und ihre Widerstandskräfte stärken will.

Das ist prinzipiell gut. Aber man hat auch schon ein vermeintliches Patentrezept zur Hand, mit welchem man dies tun will: man möchte mindestens 3 Mrd. neue Bäume in der EU bis 2030 pflanzen.

Dies wirft zwei Fragen auf:

Was ist mit den bestehenden Wäldern? Sollte man nicht vorrangig die Resilienz unserer aktuell vorhandenen Wälder stärken?

Und was ist mit der Naturverjüngung unserer Wälder? Sollte man diese, die kostenlos einfach so wächst und bestens angepasst ist an den Standort, nicht nutzen?

Eiche aus Naturverjüngung im FFH-Gebiet “Leipziger Auensystem”. Warum sich manche Baumarten an einigen Stellen verjüngen und an anderen nicht, ist eine spannende Frage und hat mit Dynamik, Umweltbedingungen u.v.m. zu tun. Foto: J. Hansmann

Die EU-Biodiversitätsstrategie versucht einen Spagat, sie will einerseits die Natur schützen und fördern, aber ebenso auch die Wirtschaft fördern: „Widerstandsfähigere Wälder können eine widerstandsfähigere Wirtschaft unterstützen.“„Sie (die EU) wird einen Fahrplan für die Anpflanzung von mindestens 3 Mrd. neuen Bäumen in der EU bis 2030 unter uneingeschränkter Achtung der ökologischen Grundsätze enthalten. Dies schafft erhebliche Beschäftigungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Sammlung und dem Anbau von Saatgut, der Anpflanzung von Jungpflanzen und der Sicherstellung ihres Wachstums.“

So hat die EU-Biodiversitätsstrategie – betreffs der Wälder in der EU – auch Wirtschaftsförderung und das Schaffen vieler Arbeitsplätze im Auge.

Doch es gibt auch folgendes in der EU-Biodiversitätsstrategie zu lesen:

„Der Anteil der Waldflächen, für die Bewirtschaftungspläne gelten, sollte alle bewirtschafteten Wälder im Besitz der öffentlichen Hand und eine wachsende Zahl privater Wälder umfassen, und biodiversitätsfreundliche Methoden wie naturbasierte forstwirtschaftliche Verfahren sollten fortgeführt und weiterentwickelt werden. Um dies zu unterstützen, wird die Kommission die Leitlinien für biodiversitätsfreundliche Aufforstung und Wiederaufforstung sowie naturbasierte forstwirtschaftliche Verfahren überarbeiten. Dies wird parallel zur neuen EU-Forststrategie erfolgen..“

Dies wäre sogar noch wichtiger als das Pflanzen von 3 Mrd. neuer Bäume in der EU – und schafft ebenso Arbeitsplätze.

Aufforstung mit Schwarznuss im FFH-Gebiet Leipziger Auwald

Aufforstung mit Amerikanischer Schwarznuss im FFH-Gebiet “Leipziger Auensystem”. Foto: J. Hansmann

Die EU will gegen gebietsfremde Arten vorgehen. Man ist sich bewusst, dass „die Zahl der invasiven Arten weiter steigen und die damit verbundenen Risiken für unsere Natur und unsere Gesundheit werden weiter zunehmen“ wird, wenn man hier nicht aktiv gegensteuert. Es gibt bereits jetzt schon eine „EU-Verordnung über invasive gebietsfremde Arten“ und weitere Vorschriften und Übereinkünfte, die man auch weiter ausbauen will.

Aber auf der EU-Liste invasiver gebietsfremder Tier- und Pflanzenarten steht keine der so gern in der Forstwirtschaft verwendeten, teils als invasiv geltenden Fremdbaumarten2. In der Aktualisierung von 2019 sind ganze zwei Baumarten zu finden, welche aber forstlich keine Bedeutung haben: Götterbaum und Chinesischer Talgbaum3. Was ist mit der Roteiche? Der Robinie? Dem Hickory? Den Schwarznüssen?

Ja – solche Baumarten werden schon seit über 200 Jahren in unseren Wäldern eingebracht. Aber wir wissen, wie sich die Roteichen stellenweise verjüngen und andere Baumarten verdrängen. Wir wissen auch, wie sich Robinien in unserer Umwelt nach und nach verselbstständigen. Auch Hickory verjüngt sich zunehmend von allein, ebenso Schwarznuss. Es ist absehbar, dass forstlich eingebrachte Fremdbaumarten schon jetzt nicht mehr einzudämmen sind – mit unabsehbaren Folgen – es sollte dringend dafür gesorgt werden, dass man dies nicht noch durch massenhaftes Anpflanzen von Fremdbaumarten – gerade in Schutzgebieten wie dem Leipziger Auensystem – forciert.

Besonders die Staatsbetriebe, die oft Wälder im Besitz der öffentlichen Hand bewirtschaften, sind sehr offen gegenüber Fremdbaumarten. In der Waldpost 2020 des Staatsbetriebs Sachsenforst empfiehlt man aktuell4:

Robinie, Roteiche, Nordmann-Tanne, Pazifische Edeltanne, Rumelische Strobe und Küsten-Douglasie – alles nicht einheimische Baumarten. Esskastanie, Elsbeere und Speierling werden auch empfohlen und kommen sogar in Mitteleuropa vor, sind aber eigentlich beheimatet in südlichen oder besonders klimatisch begünstigten Regionen. Bei diesen Arten könnte es sogar stellenweise interessant sein, sie einzubringen – aber mit Umsicht und nicht in Schutzgebieten.

Und man empfiehlt, weil dies noch nicht reicht, weitere Forschungen und Versuche mit Orient-Buche, Zerr-Eiche, Flaum-Eiche, Ungarische Eiche, Kaukasus-Fichte, diverse südosteuropäische Tannen-Arten, die Sierra-Tanne, Westamerikanische Hemlocktanne, Weihrauchzeder, Baumhasel, Libanonzeder, Schwarznuss, Butternuss, Mandschurische Nuss, Schindelrindiger Hickory, Bitternuss, Tulpenbaum, Gurken-Magnolie, Rot-Ahorn, Zucker-Ahorn…

Großflächige Neuaufforstung mit Roteiche in der Dübener Heide im Juli 2020. Foto: J. Hansmann

Was ist also, wenn nun findige und neugierige Forstbetriebe und -verwaltungen einen guten Teil der 3 Mrd. Neuer Bäume als (teils invasive) Fremdbaumarten aufforstet? Was werden die ökologischen Folgen sein? Und – ist dies nicht ein möglicher Widerspruch gegenüber der EU-Biodiversitätsstrategie, die doch eigentlich gegen invasive gebietsfremde Arten vorgehen will?

Das Unbehagen, dass die Autoren beim Lesen der Biodiversitätsstrategie befiel, wurde auch von zahlreichen Wissenschaftlern verspürt. In der wissenschaftlichen Zeitschrift Science erschien im Juni 2020 ein äußerst interessanter Beitrag von mehreren europäischen Forschern, welche konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Biodiversitätsstrategie machen5.

So sollten nicht nur wenige, kleine besondere Waldbereiche geschützt werden, die nur einen sehr geringen Anteil an Wald in der EU haben. Es steht außer Frage, dass diese geschützt werden müssten, aber vor allem muss der Kontext, in welchem diese Waldbereiche existieren, mit einbezogen werden. Zudem sollten die Waldbewirtschafter in der EU auch bei „normalen“ Wäldern ökosystembasierte Ansätze in ihre Arbeitsweisen mit einbeziehen. Zwar will die EU ja „biodiversitätsfreundliche Methoden wie naturbasierte forstwirtschaftliche Verfahren“ fortführen und weiter entwickeln – aber wohin sollen dann die 3 Mrd. Neue Bäume dann hin? In der EU dürfte es kaum Flächen geben, wo man aus dem Nichts neu aufforsten könnte – alles wird doch schon jetzt landwirtschaftlich genutzt – oder ist schon jetzt Waldökosystem oder Forstkultur, welche teilweise auf gewachsenem Waldboden steht und Potential zu Naturverjüngung aufweist.

Zwar will „die Kommission die Leitlinien für biodiversitätsfreundliche Aufforstung und Wiederaufforstung sowie naturbasierte forstwirtschaftliche Verfahren überarbeiten“, aber es sieht so aus, als würde hier ein Widerspruch in der EU-Biodiversitätsstrategie in sich vorliegen. Einerseits will man ja biodiversitätsfreundlich arbeiten, gleichzeitig aber besteht die Wahrscheinlichkeit, dass mit den 3 Mrd. Neuer Bäume auch wieder nur neue Forstkulturen entstehen. Wie will die EU dies ausschließen?

Robinienverjüngung auf einem Kahlschlag im FFH-Gebiet “Leipziger Auenystem” im September 2018. Foto: J. Hansmann

Das Pflanzen von 3 Mrd. neuen Bäumen klingt für einen Laien auf den ersten Blick gut, aber es ist plausibel, wenn die Wissenschaftler argumentieren, dass dieser Plan sogar schädliche Folgen haben könnte, indem findige Waldbesitzer und -bewirtschafter eben die Fördergelder ausnutzen werden, um massiv experimentell mit standortuntypischen Baumarten aufzuforsten. Für die einheimische Natur haben diese Fremdbaumarten auf jeden Fall wenig Nutzen – viele andere Organismen sind schlicht kaum auf diese fremden Arten eingestellt. Hier noch weiter zu verfremden, gleicht einem Experiment auf Kosten der einheimischen Ökosysteme.

Die Autoren des Science-Artikels schlagen statt dessen vor, den Holzeinschlag in der EU generell zu vermindern und natürliche Erneuerungsprozesse auf breiter Fläche zu unterstützen. Die Naturverjüngung in den europäischen Wäldern sollte unbedingt beachtet und gefördert werden – dies würde auch öffentliche Gelder sparen. Weiterhin sollten die Anpassungsprozesse unserer einheimischen Wälder und Baumarten mehr berücksichtigt und gefördert werden.

Ob also ein schnödes Wieder-Aufforstungsprogramm der Artenvielfalt und der Umwelt hilft? Oder gar im Widerspruch zu den sonstigen Zielen in der EU-Biodiversitätsstrategie steht?

Unsere Waldlebensgemeinschaften sollten uns auf jeden Fall eine weitsichtigere und komplexere Strategie Wert sein. Widersprüche müssen benannt und diskutiert werden – bevor viel öffentliches Geld ausgegeben wird und trotz vieler guter Gedanken manches gut gewollt ist, aber kontraproduktiv ausgenutzt wird.

Möge also dieser Beitrag der Wissenschaftler gelesen werden an den entscheidenden Stellen!

Im FFH-Gebiet „Leipziger Auensystem“ erleben wir vor Ort seit Jahren, wie einheimische Bäume gefällt wurden und standortuntypische Schwarznüsse, Roteichen usw. aufgeforstet wurden. Wir wissen, dass in der Dübener Heide und anderswo an vielen Stellen gleiches geschieht. Areale mit Orkanschäden werden kahl beräumt, bestehende Waldlebensgemeinschaften werden vernichtet, sind nicht mehr Mode, sind krank und nicht mehr nutzbar, leiden unter dem Klima, werden entsorgt als „unwirtschaftlich“ – und dann werden Fremdbaumarten ohne großen ökologischen Nutzen eingebracht, welche im Worst Case sogar noch negative Auswirkungen auf die umliegende Natur haben können.

Eiche aus Naturverjüngung in der Dübener Heide im Juli 2020: nicht beachtet und nicht vor Verbiss geschützt – schade! Naturverjüngung fällt vielerorts durch das Wahrnehmungsraster der Bewirtschafter: vertane Chancen. Foto: J. Hansmann

In der Dübener Heide findet man viele naturverjüngte Eichen unter dem lichten Schirm der Nadelbäume – aber sie werden nicht gefördert, bekommen keinen Verbissschutz, kein Gatter. Sie werden schlicht nicht genutzt. Statt dessen wird flächig aufgeforstet mit Roteiche, welche sich inzwischen aber auch selbst naturverjüngt – in der ganzen Region. Es besteht die Möglichkeit, dass noch mehr Fremdbaumarten unsere einheimischen Waldlebensgemeinschaften in Zukunft bis zur Unkenntlichkeit verfremden werden im ökologischem Sinne. Für viele mit unseren einheimischen Baumarten vergesellschafteten Organismen dürfte dies dann zu einem Problem werden – und damit ein Problem für die Artenvielfalt.

Die Bedenken der Wissenschaftler sind also nicht unbegründet – und was auf den ersten Blick nach einer schönen, einfachen Lösung klingt, birgt große Gefahren und kann zu gravierenden neuen Problemen in der Zukunft führen.

1 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1590574123338&uri=CELEX%3A52020DC0380

2 https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/service/Dokumente/skripten/Skript471.pdf

3 https://eur-lex.europa.eu/eli/reg_impl/2019/1262/oj

4 https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/19596

5 https://www.researchgate.net/publication/342454272_Misguided_forest_action_in_EU_Biodiversity_Strategy

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